Mileis Agenda kommt Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, vielleicht bekannt vor, denn ähnliche Maßnahmen werden auch hierzulande – in nicht ganz so radikaler Ausprägung – gefordert, um der schon länger schwächelnden deutschen Konjunktur wieder auf die Beine zu helfen und verkrustete Strukturen aufzubrechen. Könnte der argentinische Präsident also eine Art Blaupause für Deutschland sein? Die Kettensäge ist übrigens ein deutscher Exportschlager.
Milei ist ein radikal libertärer Politiker – nahezu jegliche Form staatlicher Regulierung ist ihm zuwider. Sein Ziel: Die Wachstumskräfte Argentiniens sollen wieder entfesselt, Inflation und Armut erfolgreich bekämpft werden. Ohne Frage eine Herkulesaufgabe. Fast auf den Tag genau ein Jahr ist der neue argentinische Präsident jetzt im Amt – Zeit für eine erste Bestandsaufnahme. Denn auch im Ausland wird das argentinische „Kettensägen-Experiment“ mit großem Interesse verfolgt.
Kurzer Blick in Argentiniens Vergangenheit
Vor etwas mehr als hundert Jahren galt Argentinien als Sehnsuchtsort für ein besseres Leben. Der lateinamerikanische Staat war damals durch Getreide- und Rindfleischexporte zu einem der reichsten Länder der Welt aufgestiegen. In den vierzig Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges wuchs die Wirtschaft Jahr für Jahr um 6 % – so stark wie in keinem anderen Land. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann jedoch der Abstieg.
1946 kam der Militär Juan Perón an die Macht. Er wollte das Agrarland industrialisieren. Um dies zu erreichen, schottete er die heimischen Unternehmen mittels hoher Zölle von ausländischer Konkurrenz ab, was sich auf Dauer bitter rächen sollte. Denn abgeschottet von der internationalen Arbeitsteilung und dem Wettbewerb ging es mit der heimischen Wirtschaft steil bergab. Die Folge: Mehrfach schlitterte der argentinische Staat in die Pleite (Besitzerinnen und Besitzer von argentinischen Staatsanleihen werden sich schmerzlich daran erinnern). Mit der fatalen peronistischen Wirtschaftspolitik will Milei nun radikal brechen.
Mileis wichtigstes Versprechen: die Inflation besiegen
Das vordergründig drängendste Problem für Unternehmen und Bevölkerung vor Mileis Amtsantritt war und ist die galoppierende Inflation in dem südamerikanischen Land. Im letzten Jahr lag sie noch bei über 200 %. Bei derart hohen Werten geht man üblicherweise auf eine monatliche Betrachtungsweise über. Die Inflationsrate von über 25 % im Dezember 2023 ist zuletzt im Oktober 2024 auf knapp 3 % gefallen. Bis Ende des Jahres dürfte die Zwölf-Monats-Inflationsrate laut Prognosen auf rund 120 % sinken.
Im Normalfall gilt eine derartige Inflationsrate immer noch als exorbitant hoch, ist für argentinische Verhältnisse aber durchaus eine Erfolgsmeldung (im August betrug die Inflation im Jahresvergleich noch +237 %). Zu verdanken ist der kräftige Rückgang Präsident Milei und seiner strikten Sparpolitik. Aber natürlich schlagen wie so oft bei komplexen volkswirtschaftlichen Zusammenhängen auch andere Effekte wie z. B. der allgemeine Energiepreisrückgang positiv zu Buche. Nichtsdestotrotz ist der spürbare Rückgang der Inflationsraten ein erster großer Erfolg des neuen Präsidenten.
Außenhandel und Haushalt
Mileis radikaler Kurs hat sich auch unmittelbar auf die Außenhandelstätigkeit ausgewirkt. Im Oktober d. J. wies die Außenhandelsbilanz erstmals seit langem wieder einen Überschuss von immerhin einer knappen Milliarde US-Dollar aus. Das Haushaltsdefizit lag bei Mileis Amtsantritt bei 15 % – mittlerweile ist es verschwunden. Die monatlichen Haushaltsdefizite, die Ende 2023 noch bei umgerechnet rund 2 Mrd. € lagen, sind im Jahr 2024 fast durchgängig Haushaltsüberschüssen gewichen (siehe nachfolgende Grafik). Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für die nächsten Jahre weiterhin mit Überschüssen im Staatshaushalt.
Gründe für die Trendumkehr beim Staatshaushalt: Milei hat die Staatsausgaben um ein Drittel gekürzt. Er hat Ministerien abgeschafft und Staatsbeschäftigte entlassen. 35.000 Staatsbedienstete, was etwa 10 % der gesamten öffentlich Beschäftigten entspricht, mussten unter der Regierung Milei bislang ihren Hut nehmen. Geschwindigkeit und Ausmaß der Kürzungen erinnern in der Tat stark an eine auf Hochtouren laufende Kettensäge bei der Arbeit. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang allerdings: In 14 der 24 argentinischen Provinzen gibt es mehr Menschen, die der Staat beschäftigt, als solche, die in privaten Unternehmen arbeiten.
Vom ersten Amtsjahr eines lauten, exzentrischen, nicht selten rüpelhaft auftretenden und jede Konvention brechenden Präsidenten bleibt somit neben der Inflationsbekämpfung vor allem der Versuch in Erinnerung, den Staat so weit wie möglich zurückzudrängen.
Mileis Radikalkur löst nicht alle Probleme
Das deutlich schwieriger zu lösende Problem ist die weitverbreitete Armut in der argentinischen Gesellschaft. Zwei Drittel der argentinischen Kinder müssen mit einer Mahlzeit am Tag auskommen. Wohnungen – speziell in der Hauptstadt Buenos Aires – sind für viele Familien kaum noch erschwinglich. Auch hier soll mehr Markt helfen: Staatliche Beschränkungen für den Wohnungsmarkt wurden kurzerhand aufgehoben, das freie Spiel von Angebot und Nachfrage soll für eine Entspannung am Wohnungsmarkt sorgen.
Für mehr Wohlstand und Beschäftigung der einheimischen Bevölkerung sollen nicht zuletzt auch ausländische Investoren sorgen. Geldgeber sollen 30 Jahre lang Steuererleichterungen erhalten, sofern sie mehr als 200 Mio. US-Dollar im Land investieren. Inwieweit die erwähnten Reformen tatsächlich dafür sorgen werden, die drängenden sozialen Probleme des Landes zu lösen, wird die Zukunft erst noch erweisen müssen. Nicht wenige kritisieren den mangelnden sozialen Ausgleich von Mileis radikaler Reformpolitik. Nicht förderlich ist zudem, dass sich der exzentrische Milei gerne mit anderen Regierungen anlegt – sogar mit dem Nachbarn und engen Handelspartner Brasilien.
Risiko Parlamentswahlen 2025
Milei hat für das Vorweisen weiterer nennenswerter Erfolge, von denen auch weite Teile der Bevölkerung Argentiniens profitieren, nicht mehr allzu viel Zeit. In knapp einem Jahr wird das argentinische Parlament neu gewählt. Schon jetzt kann sich der Präsident nicht auf parlamentarische Mehrheiten verlassen. Eine Wahlschlappe seiner neu gegründeten Partei „Die Freiheit schreitet voran“ wäre für seinen Reformkurs ein Rückschlag.
Der Präsident wurde zudem wegen seines Versprechens gewählt, dass nach einer Zeit der Entbehrungen und Leiden Wachstum und Wohlstand kämen. Daran wird er sich messen lassen müssen.
Deutschland: Mehr Milei wagen?
Aufgrund der sehr unterschiedlichen Ausgangslagen lässt sich Mileis Schocktherapie naturgemäß nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen. Aber der Erfolg vieler seiner eingeleiteten Maßnahmen sollte zumindest zum Nachdenken anregen und zum beherzten Handeln auch hierzulande ermutigen. Vom ersten Tag an hat Milei hunderte von Regulierungen beseitigt und so Märkte liberalisiert (zum Beispiel den Wohnungsmarkt), Unternehmen von Genehmigungspflichten befreit und Verwaltungsprozesse vereinfacht und digitalisiert – für eine bürgerfreundlichere Verwaltung. Zumindest in der Hinsicht: Warum nicht auch bei uns etwas mehr Milei wagen?