Aufgrund der nun schon viele Wochen andauernden kräftigen Markterholung im Anschluss an den historischen Corona-bedingten Einbruch haben sich viele Investoren schon wieder an das deutlich höhere Kursniveau gewöhnt und blicken lieber in die Zukunft, als sich mit der trüben Gegenwart oder gar der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wir halten es aber für wichtig, noch einmal innezuhalten, um aus der Dramaturgie der Kursbewegungen seit März die richtigen Lehren zu ziehen.
So stark die heftigen Börsenkapriolen auch am Nervenkostüm vieler Anlegerinnen und Anleger gezerrt haben mögen, so wertvoll sind sie doch für den Erfahrungsschatz: Kaum jemand hätte im März – quasi im „Auge des (Börsen-)Sturms“ – mit einer derart schnellen und gravierenden Erholungsbewegung gerechnet. Die Schweizer Bank Credit Suisse hat jüngst vorgerechnet, dass wir es in den USA ab dem 23. März mit dem stärksten Drei-Monats-Börsenaufschwung der Nachkriegsgeschichte zu tun hatten.
Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, weil einigen ermutigenden Meldungen nach wie vor viele Nachrichten aus der Kategorie „Stimmungskiller“ gegenüberstehen. So waren z. B. die jüngsten Daten zur Konjunkturentwicklung desaströs (in den USA und in Deutschland 10%iger Einbruch der Wirtschaftsleistung im 2. Quartal ggü. dem Vorquartal) und die Neuinfektionszahlen befinden sich in vielen Ländern auf dem Höhepunkt.
Die alte Börsenweisheit „Nichts hasst die Börse so sehr wie Unsicherheit“ wird in diesem Jahr fast ad absurdum geführt. Denn Unsicherheit hinsichtlich der weiteren Entwicklung im Zuge der Corona-Pandemie herrscht bekanntermaßen allerorten. Es gibt schließlich keine historische Blaupause für Kapitalmarktentwicklungen unter dem Einfluss einer Viruspandemie, die praktisch jeden Winkel der Erde erfasst hat. Dass wir trotz der aktuell äußerst schlechten Rahmenbedingungen solch eine Aktienrally erlebt haben, verdeutlicht die Unvorhersehbarkeit von Kursentwicklungen eindrucksvoll. Und diese Einsicht bereichert letztlich den Erfahrungsschatz.
Viele Anleger im Abseits
Unter dem Eindruck der atemberaubenden Abwärtsbewegung ab Ende Februar, des hohen Unsicherheitsfaktors und kursierender Hiobsbotschaften haben sich nicht wenige Anleger (private, aber auch professionelle) überstürzt vom Aktienmarkt verabschiedet. Ein Wiedereinstieg dürfte nicht leichtgefallen sein bzw. immer noch auf sich warten lassen. Angesichts der nach wie vor diffusen Nachrichtenlage ist das Misstrauen gegenüber der aktuellen Aufwärtsbewegung weiterhin groß. Die im Zuge der Krise stark gestiegenen Volumina in liquiditätsnahen Investments zeugen davon, dass die jüngste Aufwärtsbewegung von vielen Investoren nur von der Seitenlinie aus beobachtet wurde/wird. Das unterstreicht die immer wieder nachzulesende Einschätzung, dass es sich um die „meistgehasste Hausse aller Zeiten“ handelt. Vermutlich auch ein Grund, warum die Kurse derzeit nicht mehr spürbar zurückkommen – wird jeder Kursrücksetzer doch sofort von einem Teil der erwähnten Anleger zum (Wieder-)Einstieg genutzt. Nicht wenige dürften im aktuellen Marktumfeld aber nach wie vor hin- und hergerissen sein, ob sie auf dem aktuellen Kursniveau noch einsteigen sollen.
Wer also der vermeintlichen „Schwarmintelligenz“ gefolgt ist – in der Massenflucht möglichst günstig abspringen, um danach wieder einen vernünftigen Wiedereinstieg zu finden – dürfte, Stand heute, wesentliche Renditepunkte versäumt haben. Dass dies kein exklusives Schicksal privater Anleger ist, darauf deuten bereits erste Studienergebnisse hin, die sich mit den Anlageergebnissen von professionellen Investoren in der aktuellen Krise befassen.
Die Devise „Ruhe und Geduld bewahren und investiert bleiben“ hat sich einmal mehr – im wahrsten Sinne des Wortes – „ausgezahlt“. Der diesjährige Verlauf der Aktiencharts ist insofern buchstäblich als Lernkurve zu verstehen.
Eine Aktienhausse mit speziellen Facetten
Neben dem erwähnten Überraschungseffekt ist die aktuelle Aktienhausse von einer Reihe besonderer Aspekte geprägt. Parallel zur Hausse an den Aktienmärkten klettert der Goldpreis auf neue Höchststände. Dies, obwohl die Argumente, die für die jeweiligen Höhenflüge am Markt und in den Medien herumgereicht werden, im Widerspruch zueinander stehen.
Kürzlich durchbrach der Goldpreis erstmals die Marke von 2.000 US-Dollar. Als Erklärung mussten herhalten: Dollar-Schwäche, Sorgen vor einer zweiten Infektionswelle, eine Verschärfung der Spannungen zwischen den USA und China sowie die bisher ausgebliebene Einigung auf ein neues konjunkturelles Hilfspaket in den USA. Daneben wird generell auf die gravierenden wirtschaftlichen Negativfolgen von Corona verwiesen, die die Anleger ebenfalls in als „sicheren Hafen“ empfundene Goldinvestments treiben.
Eigentlich alles Gründe, um die Aktienmärkte in die Knie zu zwingen … eigentlich. Die Aktienoptimisten leugnen diese Probleme im Großen und Ganzen nicht, sie setzen aber vielmehr auf die positiven Effekte durch die umfangreichen Stützungsmaßnahmen von Notenbanken und Regierungen und glauben an eine kräftige konjunkturelle Erholung im zweiten Halbjahr. Dieses Szenario spricht eher gegen steigende Goldpreise.
Diese Gemengelage zeigt, wie unübersichtlich die Börsenlage derzeit ist – beide, Optimisten („Bullen“) und Pessimisten („Bären“), liefern nachvollziehbare Gründe für ihre jeweiligen Sichtweisen. Auffallend ist dabei, dass Bullen und Bären zum Teil die gleichen Sachverhalte nutzen, um ihre jeweilige Sichtweise zu unterstreichen. Die Bullen interpretieren die immense Ausweitung der Notenbankbilanzen und Staatsverschuldungen als maßgebliche Unterstützung für die Konjunktur und letztlich förderlich für die Unternehmensgewinne. Die Bären dagegen leiten daraus stark steigende Inflationsraten und eine massive Überschuldung von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten ab. Die aktuellen Entwicklungen an den Börsen halten sie daher für eine spekulative Blase.
Eine weitere, derzeit an vielen Aktienmärkten zu beobachtende Besonderheit unterstützt eher die Bären, denn die Aufwärtsbewegung wird nicht von der Mehrzahl der an den Börsen notierten Aktien getragen – sondern vielmehr von wenigen im Index stark gewichteten Werten. Bestes Beispiel hierfür sind die USA, wo vor allem große Technologiewerte wie Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet (Google) und Facebook für den Börsenaufschwung verantwortlich sind. Allein diese fünf Aktien haben einen Anteil von knapp 25 % am S&P 500 Index. Alle gelten als Profiteure der Coronakrise, haben zuletzt exzellente Quartalszahlen vorgelegt und jüngst meist neue historische Höchststände erklommen. Letzteres hat naturgemäß auch den gesamten S&P 500 Index mit nach oben gezogen.
Viele Werte aus anderen Branchen haben sich in den letzten Monaten deutlich weniger erholt. Fakt ist, dass eine breitere Markterholung (über viele Branchen und Einzelaktienaktien hinweg) im Sinne der Nachhaltigkeit des Börsenaufschwungs sicherlich wünschenswert wäre. Aber auch diese Aktienmarktkonstellation beinhaltet etwas Lehrreiches: Sie unterstreicht, wie schwierig es ist, aus einer großen Masse von Aktien genau diejenigen herauszupicken, die besonders gut laufen werden, zumal die Favoriten in unkalkulierbarer Weise immer wieder wechseln.
Von skeptischen Analysten und unbeeindruckten Anlegern
In solch diffusen Börsenzeiten wie diesen besinnen sich Investoren oftmals verstärkt auf Kennzahlen zur Marktbewertung, um auf diese Weise die notwendige Orientierung zu erhalten. Ein wichtiger Bestimmungsfaktor an den Börsen sind seit jeher die Unternehmensgewinne – diese spiegeln sich auch im sog. Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) wider, das die Aktienkurse ins Verhältnis zu den erzielten Gewinnen setzt. Je niedriger die Kennziffer, umso preiswerter wird die Aktie oder ein bestimmter Aktienmarkt eingeschätzt. Kurs-Gewinn-Verhältnisse werden nicht nur auf Basis der tatsächlich erzielten Gewinne errechnet, sondern auch auf Basis von künftig erwarteten Gewinnen. Schaut man sich die von Analysten erwarteten Gewinne für die nächsten 12 Monate an, so stellt man fest, dass sie derzeit eher dem Bärenlager angehören. Sie haben ihre Schätzungen in den letzten Wochen deutlich nach unten angepasst, was in Kombination mit den gestiegenen Aktienkursen dazu führt, dass viele Märkte derzeit relativ hoch bewertet erscheinen. Dies zeigt ein Vergleich zwischen dem aktuellen KGV und dem Durchschnitts-KGV der letzten 5 Jahre. Viele Firmen tun sich zudem schwer, überhaupt einen Gewinnausblick abzugeben.
In „normalen“ Zeiten löst eine solche Kombination aus unsicheren Gewinnen und vergleichsweise hoher Bewertung oftmals eine stärkere Konsolidierung am Aktienmarkt aus. Die jüngste Hausse zeigt jedoch, dass wir nicht in „normalen“ Zeiten leben. Für viele Investoren sind die Regierungshilfen und die Notenbankpolitik offenkundig wichtiger als fundamentale Faktoren wie die von Analysten erwarteten Gewinne und die aktuelle Marktbewertung.
Womöglich wird bis zu einem gewissen Grad auch schon die Entwicklung eines Impfstoffs vorweggenommen, wobei sich – wie bei allen Überlegungen, was denn nun bereits in den Marktpreisen enthalten ist – trefflich darüber streiten lässt. Vielleicht ist es auch weniger ein Impfstoff, der eingepreist wird, als vielmehr die Überzeugung der Marktteilnehmer, dass die – fraglos vielerorts schrecklichen – Corona-Folgen letztlich die Selbstheilungskräfte von Volkswirtschaften nicht außer Kraft setzen werden.
Zur aktuellen Bestandsaufnahme gehört auch, dass derzeit weitere Belastungsfaktoren, wie der näher rückende Brexit (ja, den gibt es auch noch) mit seinen vielen ungeklärten Fragen oder das wieder verstärkt aggressive Auftreten Donald Trumps angesichts der näher rückenden Wahl und schwindender Zustimmungswerte, vom Aktienmarkt weitgehend ignoriert werden.
Die entscheidende Frage: Was tun?
Zurück zum grundlegenden „Dilemma“ von Investoren, die derzeit schwanken zwischen Einsteigen und Abwarten. Wer behält am Ende Recht: die (Aktien-)Bullen oder die Bären? Vermutlich war diese Frage selten so schwer zu beantworten wie heute.
Unser Rat: Befreien Sie sich von dem Zwang, sich für ein Lager entscheiden zu müssen, und lassen Sie den Gedanken zu, dass beide Parteien Recht haben – eben nur auf einer unterschiedlichen Zeitachse. Kurzfristig spricht u. E. tatsächlich eine Reihe von Argumenten (Schnelligkeit und Heftigkeit der Erholung, mangelnde Marktbreite) dafür, dass der Aktienmarkt heißgelaufen ist und in eine Korrekturphase einschwenken könnte. Im Übrigen wäre dies auch alles andere als ungesund und nach einer solchen Rally auch nicht ungewöhnlich. Mittel- bis langfristig wird die Weltwirtschaft die Folgen der Krise aber abschütteln können. Ein Impfstoff wird dabei nur einer von vielen Gründen sein, zu denen wir u. a. auch die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft der Menschen und Unternehmen in Krisensituationen sowie ein besonnenes Vorgehen der Notenbanken zählen.
Von möglichen Korrekturphasen sollten Sie sich bei Ihren Investitionsentscheidungen ohnehin nicht beeinflussen lassen. Zeitpunkt und Ausmaß solcher Phasen kann niemand erahnen, was durch die Kapitalmarktforschung zweifelsfrei belegt ist: Das für das Ausnutzen von Kursschwankungen notwendige gute Timing gelingt nur in den seltensten Fällen und wenn, dann zufällig. Sämtliche Anlageentscheidungen sollten sich immer aus konkreten finanziellen Zielen, dem Anlagehorizont und individuellen Rendite-Risiko-Präferenzen ableiten und keinesfalls aus der Abwägung, ob nun kurzfristig die Bullen oder die Bären die Nase vorn haben werden.
Stichwort Bulle und Bär: Vielleicht sollte man die Einführung eines dritten tierischen Vertreters in die Börsenwelt ins Kalkül ziehen. Wie wäre es mit dem Delfin? Er zählt zu den intelligentesten Tieren überhaupt und sollte von daher in der Lage sein, allen Wellenbewegungen zu trotzen. Und wenn das Getöse der Bullen und Bären zu laut wird, taucht er einfach mal ab.
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