Während hierzulande mit der wärmeren Jahreszeit wieder entspanntere Corona-Zeiten anbrechen, bietet sich in China in dieser Hinsicht kein frühlingshaftes Bild. Ganz im Gegenteil: Bereits seit einigen Wochen verschärft sich dort die Corona-Situation. Seit März verzeichnen so viele chinesische Provinzen (wenn teilweise auch nur punktuell) Corona-Neuinfektionen wie seit der ersten Welle zu Beginn des Jahres 2020 nicht mehr. Mehr noch: Derzeit liegt der Anteil der von Corona betroffenen Provinzen an der gesamten chinesischen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, kurz: BIP) bei 75 %. Zum Vergleich: In der bislang folgenschwersten Welle nach Ausbruch der Pandemie waren im 3. Quartal 2021 Provinzen betroffen, die lediglich 25 % zum gesamten chinesischen BIP beisteuerten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie sind in China damit so hoch wie seit zwei Jahren nicht mehr (siehe nachfolgende Grafik).
Rabiate Null-Covid-Strategie Chinas …
Die altbekannte Reaktion der chinesischen Staatsführung auf diese dramatische Entwicklung hat sich – trotz teils anderslautender Absichtsbekundungen noch vor einigen Wochen – nicht geändert. Nach wie vor schickt die Kommunistische Parteiführung ganze Städte in den harten Lockdown, sobald auch nur einige wenige Coronafälle bestätigt werden. Dabei unterscheidet sich ein Lockdown chinesischer Prägung drastisch von demjenigen, den wir hierzulande erleben mussten: Wohnungen dürfen überhaupt nicht mehr verlassen werden, Lebensmittel werden vom Militär ausgeliefert, es finden regelmäßig verpflichtende Massentestungen/-impfungen statt.
Um die Einhaltung der Maßnahmen zu überwachen, wendet die Regierung in Millionenstädten wie Shanghai sogar Methoden an, die an Orwells „1984“ erinnern: Überwachungsdrohnen und vierbeinige Roboterhunde sind auf den Straßen von Chinas größter Stadt Shanghai unterwegs, um sicherzustellen, dass sich Bewohnerinnen und Bewohner an die Beschlüsse der chinesischen Regierung zur Eindämmung des Corona-Virus halten.
Aus den abgeriegelten Provinzen dringen inzwischen vornehmlich über die sozialen Netzwerke immer mehr Berichte verzweifelter Bürgerinnen und Bürger an die Öffentlichkeit, die von massiven Problemen bei der Lebensmittelversorgung oder sogar beim Zugang zu medizinischer Notfallhilfe berichten. Die kontrollwütige und zunehmend hilflos wirkende Staatsführung kann kaum noch verhindern, dass sich bei den Menschen mehr und mehr eine verheerende Einschätzung durchsetzt: Möglicherweise sterben derzeit mehr Chinesinnen und Chinesen durch die rigiden Corona-Maßnahmen als durch das Corona-Virus selbst. Die Lockdowns werden nichtsdestotrotz nur dort zögerlich gelockert, wo zwei Wochen lang keine neuen Fälle auftreten. Von der neuerlichen Corona-Welle sind vor allem die großen Städte betroffen – darunter sind auch einige wichtige Wirtschaftsstandorte wie Changchun oder Shenzhen, allen voran aber die Wirtschaftsmetropole Shanghai. Auch deren 15 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner wurden nach und nach in den Lockdown geschickt.
… schadet der chinesischen Wirtschaft massiv …
Neben den bereits beschriebenen die persönlichen Freiheitsrechte stark einschränkenden Maßnahmen hat die Null-Covid-Strategie Chinas auch massive wirtschaftliche Auswirkungen. Die im Vergleich zum ländlichen Raum wohlhabenderen Städte – insbesondere die Megacitys der Ostküste wie eben Shanghai – sind der Konjunkturmotor im Reich der Mitte. Sowohl als Nachfrager einheimischer wie importierter Güter als auch als Produzenten für den Binnen- und Weltmarkt fallen sie derzeit weitgehend aus. Nach der Entdeckung von einigen Dutzend Corona-Infektionen in Peking droht sogar der Hauptstadt der Volksrepublik das gleiche Schicksal wie Shanghai.
Die sich hieraus ergebende konjunkturelle Bremsspur kann im Grunde in allen Wirtschaftsbereichen beobachtet werden. Viele Segmente der Wirtschaftsleistung sind von ihren Spitzenwerten zu Jahresbeginn 2022 im Zuge der Krisenerholung zuletzt teils empfindlich gefallen – besonders merklich z. B. Exporte oder Einzelhandelsumsätze (siehe nachfolgende Grafik). Der ohnehin durch andere Faktoren bereits geschwächte Bausektor kommt weiter ins Wanken – man denke nur an das momentan fast schon in Vergessenheit geratene Straucheln des größten chinesischen Immobilienentwicklers Evergrande.
… und gefährdet die Weltkonjunktur
Eine derart ausgeprägte Schwächephase der chinesischen Volkswirtschaft hat inzwischen auch erhebliche Auswirkungen auf die gesamte weltwirtschaftliche Entwicklung. Zwar ist die Bedeutung für die globale Konjunktur (noch) nicht so groß wie diejenige der USA, China ist als inzwischen zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt aber mittlerweile weit mehr als nur ein Zünglein an der Waage. Weniger Nachfrage auf einem der größten Binnenmärkte weltweit, weniger exportierte Waren und vor allem gestörte Lieferketten bei wichtigen aus China stammenden Vorprodukten (wie Halbleiter, Magnesium oder Silizium) – all das bedingt auch international weniger Wachstum.
Noch unmittelbarere und drastischere Auswirkungen jedoch entstehen durch die logistische Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft. Schon in den zurückliegenden, weit weniger weitreichenden Lockdown-Phasen wurde deutlich: Lange bevor tatsächlich stattfindende Produktionsrückgänge in China auf die Wirtschaft weltweit zu drücken beginnen, führen durch Corona-Beschränkungen verwaiste chinesische Häfen dazu, dass der weltweite Güterstrom an ganz neuralgischen Punkten unterbrochen wird. Derzeit stauen sich die Containerschiffflotten vor der Hafeneinfahrt Shanghais, einem der umschlagsstärksten der Welt, und warten darauf, ent- und wieder beladen zu werden. Bei den chinesischen Importen ist schon jetzt zu beobachten, dass sie zuletzt dramatisch eingebrochen sind – die Exporte folgen bereits (siehe nachfolgende Grafik).
Es verwundert daher kaum, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) bei der jüngsten turnusmäßigen Aktualisierung seiner Prognosen für das weltweite Wirtschaftswachstum seine Erwartungen sowohl für die chinesische Wirtschaft als auch für die Weltwirtschaft recht spürbar nach unten korrigiert hat. Dies hat natürlich auch mit dem Russland-Ukraine-Krieg zu tun, der allerdings in erster Linie die beiden beteiligten Länder in den wirtschaftlichen Abgrund zieht.
Durch den Krieg kommt es zudem zur Verknappung wichtiger Rohstoffe und in der Folge zu teils kräftig steigenden Preisen, deren weltweit wachstumsdämpfende Wirkung bei der Erstellung der IWF-Prognosen ebenfalls berücksichtigt wurde. Die Weltwirtschaft insgesamt soll in 2022 demzufolge mit 3,6 % um stolze 0,8 Prozentpunkte weniger stark wachsen als noch im Januar prognostiziert. Mehr noch als die Korrektur für China – hier wird ein Rückgang des BIP-Wachstums von 4,8 % auf 4,4 % prognostiziert – schlägt dabei die kriegsbedingte Korrektur für Europa – insbesondere für Deutschland – zu Buche: Hierzulande rechnet der IWF noch mit 2,1 % realem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, ganze 1,7 Prozentpunkte weniger als noch vor drei Monaten.
Der IWF benennt in seiner aktuellen Konjunkturprognose die Problemfelder: das Zusammenspiel aus Corona-Welle und -Politik in China, die daraus resultierenden erneuten Herausforderungen für die internationalen Lieferketten, der bewaffnete Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sowie die Preissteigerungen an den weltweiten Rohstoffmärkten. All dies wird gemeinsam dazu führen, dass die Weltwirtschaft deutlich schwächer wächst, als noch vor wenigen Wochen zu erwarten gewesen wäre, so der IWF.
Dabei ist aus unserer Sicht die geschätzte Abwärtskorrektur für China noch überaus moderat. Offenbar geht der IWF davon aus, dass die globalen Lieferketten aufgrund der Erfahrungen der letzten zwei Jahre bereits resilienter für derartige Disruptionen sind als zuvor. Gleichzeitig dürfte in der recht zurückhaltenden Prognosekorrektur auch die Erwartung mitschwingen, dass die Corona-Entwicklung in China doch bald unter Kontrolle gebracht werden kann bzw. die chinesische Administration alles daransetzen wird, einen noch stärkeren wirtschaftlichen Abschwung zu verhindern. Genau hier liegen aktuell besonders große Unwägbarkeiten jeder Prognose.
Fazit
Rezessionsängste, Nervosität an den Aktienmärkten, Zinswende, Inflationssorgen … Wie so häufig, wenn das konjunkturelle, wirtschafts- oder geopolitische Fahrwasser turbulent wird, schießen wilde und öffentlichkeitswirksame Untergangsszenarien ins Kraut. In Diskussionen und Fachbeiträgen ist derzeit häufig von einer heraufziehenden globalen Rezession die Rede. Wenngleich sich durchaus der eine oder andere Hinweis darauf finden lässt, sind diese Unkenrufe aus unserer Sicht momentan nicht angebracht. So empfindlich die beschriebenen Wachstumsdämpfer auch sein mögen, die Mehrzahl der Faktoren – Rekordbeschäftigung in den USA und der Euro-Zone, Rekordstände bei den offenen Stellen (vor allem in den USA), ein fast ungebrochenes Verbrauchervertrauen (mit Ausnahme Europas und Chinas) – spricht derzeit gegen einen noch stärkeren Rückgang des weltweiten Wirtschaftswachstums als vom IWF prognostiziert.
Vor diesem Hintergrund relativieren sich auch die aktuellen Turbulenzen an den Aktien- und Anleihemärkten. Wie so oft in unsicheren Zeiten reagieren diese zunächst mit Kursrücksetzern und heftigen Schwankungen. Wird die Inflation sich tatsächlich im Jahresverlauf beruhigen? Bleibt es bei einem zwar leicht schwächeren, aber immer noch ansehnlichen Wachstum der Weltwirtschaft in 2022?
Die Antworten auf diese Fragen lassen zwar noch auf sich warten, derzeit zeigen aber zumindest die vorliegenden ökonomischen Daten mehrheitlich keine weitere Abschwächung. Und selbst wenn diese doch eintreten sollte – den sich dann möglicherweise anschließenden heftigen Ausschlägen an den weltweiten Aktienmärkten werden über kurz oder lang auch wieder Erholungsbewegungen folgen. Die auf dem Weg dorthin zu erwartenden Schwankungen lassen sich am besten mit einem international breit gestreuten Portfolio bewältigen – und wie immer in unruhigen Zeiten auch dadurch, dass man einen kühlen Kopf bewahrt.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank
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