Aus der Ferne betrachtet, wird es immer schwieriger nachzuvollziehen, was im Turm der Europäischen Zentralbank im Frankfurter Ostend vor sich geht. Seit Monaten steigen die Inflationsraten kräftig an und die EZB übt sich in vornehmer Zurückhaltung. Wie kann das sein? Die derzeit hohen Inflationsraten verunsichern zunehmend die Verbraucher und Anleger.
Hohe Inflation auch zu Jahresbeginn
Die Inflationsrate in Deutschland betrug im Januar 2022 nach ersten Schätzungen 4,9 % (nach nationaler Berechnungsmethode) – im Dezember 2021 lag sie bei 5,3 %. Auch in der Euro-Zone verharrte die Inflation im ersten Monat des neuen Jahres auf hohem Niveau: 5,1 % (harmonisierter Verbraucherpreisindex). Das ist alles andere als ein stabiles Preisniveau. Zudem ist keine nennenswerte Verlangsamung der Inflationsdynamik erkennbar, die so viele – wir übrigens auch – zum Jahresstart aufgrund statistischer Effekte erwartet hatten.
Kritik an der EZB wächst
Warum also rückte der EZB-Rat angesichts der unverändert hohen Teuerungsraten in seiner jüngsten Sitzung Anfang Februar nur millimeterweise von seiner bisher noch von Zurückhaltung geprägten Position hinsichtlich Zinserhöhungen und Normalisierung der Geldpolitik ab? Die Vorgehensweise der EZB stößt zunehmend auf Unverständnis. Hätte Christine Lagarde als Präsidentin der EZB im Rahmen der Pressekonferenz im Anschluss an die geldpolitische Sitzung nicht ein beherztes Vorgehen zur Eindämmung der Inflation ankündigen sollen … ja sogar müssen? Stattdessen nur erste vorsichtige Andeutungen, dass Zinserhöhungen und ein Beginn der Normalisierung der ultralockeren Geldpolitik im Jahr 2022 als ein bisschen weniger unwahrscheinlich gelten als bislang. Hätte nicht endlich gehandelt werden müssen?
Ganz so einfach ist es nicht. Auch wenn es – besonders in Deutschland – schon lange und noch immer populär ist, die Mehrzahl der Entscheider im EZB-Rat als willfährige Garanten eines niedrigen Zinsniveaus zu karikieren, die die Finanzierbarkeit der hohen Staatsschuldenstände in Europa und dort vor allem im Süden sicherstellen sollen (wobei diesen Aspekt vollständig von der Hand zu weisen nun auch wieder naiv wäre): So gibt es doch einige stichhaltige geldpolitische Argumente, die nach wie vor dafür sprechen, nicht zu voreilig monetäre – und womöglich sogar deutlich spürbare – Straffungsmaßnahmen einzufordern. Diese Argumente lassen sich grob in zwei Bereiche einteilen: einerseits berücksichtigenswerte Details zur Entwicklung und Zusammensetzung der Inflation, andererseits die grundsätzliche Wirkungsweise von geldpolitischen Maßnahmen.
Details zur Inflationsentwicklung
Wenn wir uns zunächst den Inflationsdetails zuwenden und die eingangs erwähnte Inflationsrate von 5,1 % für die Euro-Zone einmal näher unter die Lupe nehmen, wird schnell ersichtlich, wie sehr sie insbesondere von einem bestimmten Faktor getrieben wird. Beim genaueren Blick auf die Inflationsentwicklung sticht nämlich eine ganz andere Zahl als die Höhe der durchschnittlichen Teuerungsrate ins Auge. Eigentlich sollte es einen beim Gedanken an den letzten Besuch an der Tankstelle nicht wundern, aber die schiere Höhe versprüht dann doch eine (erschreckende) Faszination: Um sage und schreibe 28,6 % sind die für die Berechnung der Inflationsrate wichtigen Energiepreise in der Euro-Zone im Januar verglichen mit dem Vorjahresmonat gestiegen. Ungefähr ein Viertel bis ein Drittel der Verbraucherpreise hängen direkt (Benzin, Heizung usw.) oder indirekt (Transportkosten für Waren, Energiekosten für Geschäfte usw.) von den Energiepreisen ab.
Allein gegenüber dem Vormonat, also Dezember 2021, gab es einen Anstieg von 6 %! Da überrascht es wenig, dass die sogenannte „Kernrate“ der Inflation – berechnet ohne die (volatilen) Energiepreise und diejenigen für Nahrungsmittel, die ihrerseits aufgrund der hohen Transportintensität sehr stark von der Entwicklung der Energiepreise abhängen – bei nur 2,5 % liegt und gegenüber dem Vormonat sogar um 0,5 Prozentpunkte zurückgegangen ist. Wir haben es also – anders als in den USA – in Europa noch immer nicht mit einem mehr oder weniger breit angelegten Anstieg der Inflation zu tun, der sich gleichmäßig auf alle Segmente von Waren und Dienstleistungen erstreckt. Dies jedoch wäre das gefährlichere Inflationsszenario, denn breit angelegte Preissteigerungen setzen sich tendenziell in der Gesamtwirtschaft hartnäckiger fest. Stattdessen haben wir es derzeit in der Euro-Zone mit einem fortgesetzten Anstieg insbesondere der Energiepreise zu tun. In den USA hingegen zeigen sich schon erste Anzeichen einer nennenswerten Verbreiterung der Inflationsentwicklung, daher auch die forschere geldpolitische Gangart dort.
Höhere Leitzinsen sind kein Allheilmittel
Was hat diese Bestandsaufnahme nun aber für Implikationen für die Geldpolitik? Mit dieser Frage kommen wir zum zweiten Aspekt, der gegen allzu voreilige stärkere geldpolitische Straffungen spricht. Zunächst einmal bedeutet eine derart stark auf die Energiepreise fokussierte Inflation, dass die Wirksamkeit geldpolitischer Straffungsmaßnahmen hiergegen äußerst begrenzt wäre. Denn der Grund für die jüngste Inflationsentwicklung liegt nicht in einer heißgelaufenen Wirtschaft, die aufgrund eines zu niedrigen Zinsniveaus und damit zu günstig verfügbaren Kapitals überhitzt, so dass allenthalben durch zu hohe Nachfrage und Steigerungen der Löhne auf breiter Front eine Inflationsspirale in Gang gesetzt wird. In diesem Falle wäre schnelles geldpolitisches Handeln durchaus angebracht und aller Voraussicht nach auch wirksam. In der aktuellen Situation hingegen könnte die EZB – lapidar formuliert – die Leitzinsen in fast beliebige Höhen schrauben und die Liquiditätsversorgung des Wirtschaftskreislaufs durch ihre Anleiheaufkäufe obendrein abrupt zurückfahren … der Effekt auf die Energiepreise und damit auch auf die aktuell hohe Inflation wäre denkbar gering.
Darüber hinaus lässt sich absehen, dass sich ab der Jahresmitte die Preisanstiege im Energiebereich statistisch relativieren dürften. Dabei gehen wir realistischerweise davon aus, dass die Energiepreise nicht jeden Monat immer noch weiter ansteigen, sondern die gestiegenen Preise auch wieder mehr Angebot anlocken und der heftige Preisauftrieb so zum Erliegen kommt. Denn wenn wir auf die Daten der letzten Monate schauen, sehen wir einen massiven Teuerungsschub bei den Energiepreisen zur Jahresmitte 2021. Zuvor lag das Preisniveau für die fossilen Energieträger noch auf deutlich niedrigerem Niveau – umso stärker fällt derzeit die als Vorjahresveränderung berechnete Steigerungsrate aus (Preis Januar 2022 ggü. Januar 2021). Man spricht vom sogenannten „Basiseffekt“. Und dieser wird sich etwa ab der Jahresmitte 2022 auch bei den Energierohstoffen bemerkbar machen – sprich: Dann nämlich werden die aktuellen Preise mit dem hohen Stand aus dem Vorjahr verglichen.
So weit also die Erklärungsansätze für die nach wie vor zurückhaltende EZB-Politik, die im Bereich der Statistik und Dynamik bzw. Breite der Inflationsmessung zu finden sind. Werfen wir nun noch einen kurzen Blick auf die grundlegenden Grenzen der Geldpolitik, die beim aktuellen Kalkül der EZB aus unserer Sicht ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Vor allem der Aspekt einer grundsätzlich immer zeitversetzten Wirkung geldpolitischer Maßnahmen dürfte hier ein entscheidender Faktor sein. Zudem wissen die EZB-Entscheider natürlich nur zu gut, dass sie ihre Abwägungen immer auf Basis von Daten treffen müssen, die einen leichten Zeitverzug haben. Sie haben es daher häufig mit einer Inflationsdynamik zu tun, deren Ursachen in der Vergangenheit liegen.
Es ist also zu berücksichtigen, dass geldpolitische Straffungsmaßnahmen, die heutzutage beschlossen werden, erst mit einiger Zeitverzögerung tatsächlich zu wirken beginnen … wenn überhaupt. In der Geldpolitik spricht man in diesem Zusammenhang von „lags“ (aus dem Englischen). Hierzu ein kleines Gedankenspiel: Verbinden wir einmal den oben erläuterten, für die Jahresmitte zu erwartenden Basiseffekt bei den (Energie-)Rohstoffen mit den eben dargestellten „lags“. Ein großes Risiko für die geldpolitischen Entscheider der EZB liegt dann darin, heute Maßnahmen zu beschließen, die vielleicht frühestens in einigen Monaten erste realwirtschaftliche Wirkungen zeigen, dann allerdings in einem inflatorischen Umfeld, das diese Wirkungen unter Umständen nicht mehr verträgt.
Fazit
Die eingangs aufgeworfenen Fragen sollte man aus unserer Sicht folgendermaßen beantworten: Im EZB-Turm im Frankfurter Ostend werden zwei Risiken sorgfältig gegeneinander abgewogen. Einerseits die geldpolitische Lockerung nur langsam und moderat zurückzuführen (so wie derzeit noch beabsichtigt) und als Folge möglicherweise die Inflationsraten weiter steigen und die Inflationsbasis sich verbreitern zu lassen. Und andererseits eine geldpolitische Straffung schneller und vehementer einzuleiten und dadurch möglicherweise überflüssigen Druck auf die Entwicklung der Konjunktur auszuüben, der aufgrund des erwähnten Zeitverzugs ggf. zur Unzeit zu greifen beginnt.
Beileibe keine leichte Entscheidung … bei der sicherlich auch mitbedacht wird, dass eine tatsächlich weiter fortschreitende Inflation mit geldpolitischen Maßnahmen auf absehbare Zeit immer noch leichter wieder in den Griff zu bekommen wäre, als im Gegenzug japanische Verhältnisse zu riskieren, nämlich eine lang anhaltende Periode mit niedrigem Wirtschaftswachstum und niedriger Inflation bzw. deflationären Tendenzen. So oder so: Die nächste EZB-Sitzung (mit anschließender Pressekonferenz) am 10. März dürfte spannend werden.
Das alles soll den derzeit heftigen Inflationsanstieg nicht schönfärben. Für breite Bevölkerungsschichten ist er nicht nur ein lästiges Ärgernis, sondern zehrt nicht selten an den wirtschaftlichen Grundlagen der Existenz. Und zur Wahrheit gehört auch: Die Inflation, deren weitere Entwicklung aus vielerlei Gründen (Ukraine-Konflikt, Corona) mit Unsicherheiten behaftet ist, wird bis auf Weiteres auch für die Finanzmärkte ein Unsicherheitsfaktor bleiben.
Aktuell ist aus unserer Sicht insbesondere wirtschaftspolitisches Handeln angezeigt. Die Verantwortung liegt aus den oben dargestellten Gründen unseres Erachtens eher beim Wirtschafts- und Finanzministerium in Berlin denn bei der EZB in Frankfurt. Erste Maßnahmen, wie Wohngelderhöhung und Steuererleichterungen für Geringverdiener, sind daher zu begrüßen.
Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank
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