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Schwellenländer: Pessimismus eröffnet Chancen

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Nach dem ausgezeichneten Börsenjahr 2021 macht sich im laufenden Jahr Ernüchterung unter den Anlegerinnen und Anlegern breit – besonders heftig haben zuletzt Aktien aus den Schwellenländern verloren. Doch die Emerging Markets enttäuschen nicht erst seit diesem Jahr. Im Oktober 2010 hatte der für Standardaktien aus den Schwellenländern repräsentative MSCI Emerging Markets Index relativ zum MSCI World Index (Standardaktienindex der Industrieländer) ein Zwischenhoch erklommen – seither schneidet er (mit kurzen Unterbrechungen) spürbar schlechter als der MSCI World Index ab (siehe nachfolgende Grafik).

Schwellenländeraktien mit jahrelanger Durststrecke

Die Ursachen für die diesjährige eklatante Schwäche der Schwellenländerbörsen sind vielfältiger Natur und gleichen in weiten Teilen denen der Industrieländer: nachlassendes Wirtschaftswachstum, teils sehr hohe Inflationsraten, steigende US-Zinsen, Dollarstärke, Corona und der Ukraine-Krieg mit seinen Folgen für die Energieversorgung. Zusätzlich lasten die stark gestiegene Risikoaversion internationaler Investorinnen und Investoren und die extrem heftigen Schwankungen, speziell am chinesischen Aktienmarkt, auf den Börsen der Emerging Markets. China hält nach wie vor an seiner sehr rigiden Null-Covid-Strategie fest, was für eine anhaltende Lieferkettenproblematik sorgt. Dies belastet in erster Linie die chinesische Volkswirtschaft, aber auch die Weltwirtschaft. Zudem machte Präsident Xi Jinping auf dem jüngsten Parteikongress durch die Installation einer neuen, weitgehend wirtschaftsunfreundlichen Führungsriege (inklusive der Verlängerung seiner eigenen Amtszeit um mindestens 5 Jahre) deutlich, dass rein wirtschaftlich vorerst eine harte Hand regieren dürfte, insbesondere gegenüber Technologiekonzernen mit hoher Markt- und Datenmacht, wie z. B. Alibaba oder Tencent.

Diese Entwicklung ist aufgrund der starken Dominanz Chinas im asiatischen Raum problematisch. So hat allein China im eingangs erwähnten MSCI Emerging Markets Index ein Gewicht von rund 30 Prozent und Asien insgesamt von rund 75 Prozent.

Asien dominiert

Blickt man etwas weiter zurück, stellt man fest, dass die Entwicklung an den Schwellenländerbörsen seit der Jahrtausendwende äußerst wechselhaft verlief. Die erste Dekade des Jahrtausends war von der zunehmenden Integration der Schwellenländer in die Weltwirtschaft beziehungsweise ihrer zunehmenden Verflechtung mit den entwickelten Volkswirtschaften geprägt, was zu einem Boom in den Emerging Markets führte. Ein weiterer Treiber des überproportionalen Wachstums der Schwellenländer war damals ihr – in vielfacher Hinsicht immer noch bestehender – enormer Nachholbedarf im Vergleich zu den Industrieländern, etwa was Konsumgüter des gehobenen Bedarfs betrifft. Diese Dekade des stürmischen Wirtschaftswachstums ging auch mit stark steigenden Kursen an den Schwellenländerbörsen einher.

In der zweiten Dekade des Jahrzehnts änderte sich das Bild. Der von der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung ausgehende Impuls verlor an Kraft. Hinzu kamen Deglobalisierungstendenzen – ausgelöst von protektionistischen und populistischen Strömungen sowie zuletzt von Störungen der globalen Lieferketten. Dies führte zu erheblichen Einschränkungen im Welthandel. Im Ergebnis verlangsamte sich auch das Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern und der dortige Börsenboom fand ein vorläufiges Ende.

Ein weiterer Grund für die relative Schwäche der Schwellenländeraktien: Der Technologiesektor war in den zurückliegenden Jahren DAS Zugpferd der Aktienmärkte. Insbesondere die amerikanischen Tech-Riesen wie Apple, Amazon, Alphabet (ehemals Google) und Microsoft haben Anlegergelder im großen Stile angezogen und einen überproportionalen Anteil an der positiven Aktienmarktperformance der Industrieländer (abzulesen am MSCI World Index) auf sich vereint.

Emerging Markets geben Führung ab

Erleben wir in der laufenden Dekade eine Renaissance der Schwellenländer?

Investoren sehen derzeit nur noch Risiken: schwächeres Wachstum, Covid-19, geopolitische Spannungen und den Liquiditätsentzug durch die Notenbanken in den USA und in Europa, Chinas mögliche Abkehr von der Globalisierung bzw. einer klar wachstumsorientierten Politik. Angesichts dessen fragen sich viele Anlegerinnen und Anleger: Soll man in den riskanten Schwellenländern überhaupt noch investieren?

Selbstverständlich können auch wir nicht vorhersagen, wie sich die Schwellenländer in den vor uns liegenden Jahren schlagen werden. Allerdings ist eine objektive Bestandsaufnahme der aktuellen Lage in den Emerging Markets möglich und es lassen sich die voraussichtlichen Treiber der mittel- bis längerfristigen Entwicklung identifizieren. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Die Stimmung in Bezug auf die Schwellenländer ist derzeit schlechter als die tatsächliche Lage und die längerfristigen Aussichten bleiben durchaus vielversprechend.

Trotzdem sollten speziell die aktuellen politischen Entwicklungen in China keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden. Offenbar ist man dort bereit, das Wachstumsstreben zurückzustellen und sich zunächst auf protektionistische und geostrategische Maßnahmen sowie auf Sicherheitsinteressen zu konzentrieren. Wir glauben allerdings nicht, dass ein kräftiges Wirtschaftswachstum in China zum Auslaufmodell wird, weil dies hohe Risken im Hinblick auf den sozialen Frieden im Land birgt und dann letztlich auch das erklärte Ziel Chinas, Staatsmacht Nr. 1 zu werden, konterkarieren würde.   

Allerdings hat eine weit verbreitete Skepsis gegenüber den Wachstumschancen Chinas mittlerweile ihren Niederschlag in den stark gefallenen Aktienkursen in den Emerging Markets gefunden. Negative Nachrichten aus den Schwellenländern dürften somit kaum noch für herbe Rückschläge sorgen … Sie werden ja ohnehin von vielen erwartet.

Mays Logbuch: Schwellenländer: Pessimismus eröffnet Chancen

Sind höhere US-Zinsen zwingend schlecht für die Schwellenländer?

Eine der größten Gefahren für die Emerging Markets stellen nach Einschätzung vieler Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer höhere Zinsen in den USA dar. Folglich wird der aktuell von der US-Notenbank verfolgte stramme Zinserhöhungskurs als extrem negativ für die Schwellenländer interpretiert. Steigende Zinsen belasten – so die oft geäußerte Meinung – vor allem die Emerging Markets, da sie einerseits deren Finanzierungskosten erhöhen und andererseits dafür sorgen, dass Kapital aus den Schwellenländern abfließt. Die Überlegung dahinter: Wenn sich auch sichere US-Staatsanleihen ansprechend verzinsen, besteht weniger Anreiz, Geld in wirtschaftlich unsicherere Regionen zu investieren.

Allerdings zeigt eine Auswertung der US-Investmentbank JPMorgan, dass US-Zinserhöhungszyklen nicht zwangsläufig negativ für die relative Performance von Schwellenländeraktien waren. In den fünf Episoden seit 1988 (die aktuell noch laufende Erhöhungsphase ausgeklammert) behielten Emerging Markets dreimal das bessere Ende für sich, zweimal schnitten die Industrieländer besser ab, dabei einmal nur knapp.

US-Zinserhöhungen nicht per se Gift für die Emerging Markets

Selbst wenn man für die aktuelle Periode unterstellt, dass sie zugunsten der Industrieländer ausgeht, ist das Bild alles andere als eindeutig.

Überhaupt scheinen die meisten Schwellenländer ihre Lehren aus früheren Krisen – insbesondere der von 2013 – gezogen zu haben. Als im Jahr 2013 der damalige Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, ein Zurückfahren (engl. Tapern) der zuvor sehr großzügigen (liquiditätsschaffenden) Anleihekäufe in Aussicht stellte, löste er das sogenannte „Taper Tantrum“ aus, eine Art „Wutanfall“ (engl. Tantrum) der Märkte. Hauptleidtragende waren dabei Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko, Südafrika und Indonesien, aus denen Investorinnen und Investoren damals abrupt Kapital abzogen, so dass ihre Währungen massiv unter Druck gerieten.

Viele Schwellenländer sind heute aus fundamentaler Sicht nicht mehr so fragil wie 2013. So weisen die meisten Emerging Markets deutlich geringere Leistungsbilanzdefizite auf, ihr Saldo im Handel von Waren und Dienstleistungen mit dem Ausland ist also relativ ausgeglichen. Auch die Notenbanken der Schwellenländer haben aus dem „Taper Tantrum“ Lehren gezogen. Sie sind stark auf eine Bekämpfung der hohen Inflation fixiert und verfügen heute über deutlich höhere Währungsreserven als in der Vergangenheit.

Wachstumsregion Asien könnte für neuen Schwung sorgen

Die wirtschaftliche Entwicklung Asiens ist und bleibt beeindruckend – daran ändern auch die aktuellen Probleme nur wenig. Ein Grund für diese Dynamik ist der günstige demografische Trend mit einer weiterhin starken Zunahme der meist gut qualifizierten Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. China stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, da es massiv mit einer Überalterung der Gesellschaft zu kämpfen hat.

Auch werden in Asien mittlerweile wesentlich höhere Summen in Forschung und Entwicklung investiert als in Europa oder den USA. Zudem gibt es in Asien so viele Internetnutzer wie sonst nirgends auf der Welt. Dies eröffnet ein enormes Marktpotenzial für Güter und Dienstleistungen, denn der Trend, immer mehr Geschäfte online zu tätigen, wird auch nach der Pandemie andauern. Ein weiterer Vorteil der Schwellenländer ist ihre Fähigkeit, sich an hochentwickelten Volkswirtschaften zu orientieren und deren ausgefeilte Technologien zu übernehmen, um die eigene Produktivität zu steigern. Überhaupt gelten Asiatinnen und Asiaten als sehr technikaffin.

Bei aller Bedeutung Chinas als größte Volkswirtschaft Asiens sollte nicht übersehen werden, dass mehrere andere asiatische Länder (beispielsweise Indien) mittlerweile ein stärkeres Wachstum vorweisen als das Reich der Mitte. Zudem haben sich viele asiatische Länder in schlagkräftigen Bündnissen zusammengeschlossen. Die Gemeinschaft der ASEAN-Staaten (Verband südostasiatischer Nationen) umfasst eine Bevölkerung von rund 640 Mio. und ist damit größer als die Europäische Union (EU). Die ASEAN-Staaten beeindrucken durch ihre wirtschaftliche Dynamik, die weltweit ihresgleichen sucht, und durch einen riesigen Verbrauchermarkt.

Doch damit nicht genug: Das kürzlich unterzeichnete RCEP-Abkommen (Regional Comprehensive Economic Partnership) dürfte für weitere positive Impulse in der Region sorgen. Mit RCEP entsteht die größte Freihandelszone der Welt, an der die zehn ASEAN-Staaten, China, Japan, Südkorea sowie Australien und Neuseeland teilnehmen. Auf die RCEP-Mitgliedsländer entfallen etwa 25 Prozent des globalen Waren- und Dienstleistungsverkehrs und fast ein Drittel des weltweit erwirtschafteten Bruttoinlandsproduktes (BIP), wobei dieser Anteil nach Expertenmeinung bis 2030 voraussichtlich 50 Prozent erreichen wird. Der RCEP-Block deckt zudem einen Markt von fast 2,3 Mrd. Menschen ab, was 30 Prozent der Weltbevölkerung entspricht, und dient als gigantische Handelsplattform für Unternehmen – und das nicht nur innerhalb der Region Asien, sondern weltumspannend.

Alles in allem also günstige Rahmenbedingungen für die asiatischen Aktienmärkte, die – wie bereits erwähnt – das mit Abstand größte Gewicht im MSCI Emerging Markets bilden.

Fazit

Schwellenländer haben derzeit nicht nur mit dem bedenklichen politischen Kurs Chinas und den auch in den Industrieländern bekannten Problemen zu kämpfen (hohe Inflation, Wirtschaftsabschwächung, Folgen des Ukraine-Kriegs), sondern obendrein mit dem weit verbreiteten Pessimismus vieler Investorinnen und Investoren, was die weiteren Perspektiven anbelangt. Dieser Pessimismus, der zu stark gedrückten Aktienkursen geführt hat, eröffnet unseres Erachtens Chancen. Viele Schwellenländer stehen insgesamt nicht so schlecht da wie oft befürchtet. Alles in allem bleiben nach unserer Einschätzung die wirtschaftlichen Aussichten für die Emerging Markets positiv – vor allem die der Wachstumsregionen in Asien.

Schwellenländeraktien gehören als Beimischung in jedes gut strukturierte Aktiendepot. Selbstverständlich sollte auch hier auf eine breite, länderübergreifende Streuung geachtet werden.

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagestrategie und Produktentwicklung der Quirin Privatbank

 

Warum man Schwellenländer bei der Depotstrukturierung nicht außen vor lassen sollte und wie man konkret in das Segment der Schwellenländer investiert, erfahren Sie auch in dieser Podcast-Folge:

 

Disclaimer/rechtliche Hinweise

Der Beitrag ist mit größter Sorgfalt bearbeitet worden. Er enthält jedoch lediglich unverbindliche Analysen und Erläuterungen. Die Angaben beruhen auf Quellen, die wir für zuverlässig halten, für deren Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität wir aber keine Gewähr übernehmen können. Die Informationen wurden einzig zu Informations- und Marketingzwecken zur Verwendung durch den Empfänger erstellt und können keine individuelle anlage- und anlegergerechte Beratung ersetzen.

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