Smartphones aus Südkorea, Notebooks aus China, Autoteile von den Philippinen, Kleidung aus Pakistan – ja, auch teure Labels produzieren im Ausland –, Holz für Möbel aus Indonesien, Orangen aus Israel, Grapefruits aus Mexiko, Kakao von der Elfenbeinküste … Könnten Sie auf all diese Waren und Güter verzichten? Nein? Das müssen Sie auch nicht, immerhin lebt unsere Welt heute von dem regen Austausch von Waren und Dienstleistungen aller Art. Ohne diesen freien internationalen Handel sähe unsere Welt völlig anders aus.
Dieser freie Handel zwischen Volkswirtschaften – auch Außenhandel oder internationaler Handel – ist grundsätzlich zum Vorteil aller beteiligten Länder. Das wissen wir spätestens, seitdem David Ricardo in seinem 1817 erschienenen Buch „Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung“ neben dem absoluten Handelsvorteil, den Adam Smith schon über 30 Jahre früher beschrieben hatte, auch den sogenannten komparativen Handelsvorteil eingeführt hat.
Dieser besagt, dass sich Handel für zwei exemplarisch betrachtete Länder selbst dann lohnen kann, wenn eines von ihnen alle (!) Güter absolut gesehen günstiger produziert, also auf den ersten Blick keinen Vorteil von Importen hätte. Denn es reicht eben schon, wenn das andere im Beispiel betrachtete Land auch nur einen komparativen Kostenvorteil hat – also eines der betrachteten Güter nur relativ günstiger produzieren kann als das erste Land. Dann beginnt sich ein internationaler Güteraustausch schon zu lohnen.
Veranschaulichen möchte ich Ihnen das schematisch anhand des nachfolgenden Beispiels: Stellen Sie sich vor, es gibt nur zwei Länder – Frankreich und die Türkei. Frankreich hat 10 Bäcker, jeder von ihnen bäckt 20 Brote pro Tag, zudem gibt es 10 Fischer, jeder von ihnen fängt 20 Fische pro Tag. Die Türkei hat 30 Bäcker, die jeweils 4 Brote pro Tag backen, und 10 Fischer, von denen jeder 12 Fische am Tag fängt. Der komparative Vorteil der Franzosen liegt beim Brotbacken, der der Türken beim Fischen. Beide Länder können ihre Gesamtproduktion steigern, indem sie sich auf das Gut mit ihrem komparativen Vorteil konzentrieren und anschließend einen Teil der selbst produzierten Waren mit dem Handelspartner gegen das jeweils nicht selbst produzierte Gut tauschen.
Man könnte auch ganz einfach sagen: Der Außenhandel ermöglicht es, das wohlstandssteigernde Prinzip der Arbeitsteilung über die Grenzen einer Volkswirtschaft hinaus wirksam werden zu lassen.
So viel zur Theorie. Dass da auch einiges an Praxis dran ist, wird klar, wenn wir auf die weltweite wirtschaftliche Entwicklung der letzten, sagen wir, 100 Jahre schauen, die ganz maßgeblich auch vom freien Außenhandel geprägt wurden. Die massive Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in den Industrie-, aber auch den Schwellen- und Entwicklungsländern ist in ganz wesentlichen Teilen auf den Außenhandel und die mit ihm verbundenen, in unserem Beispiel eben schematisch dargestellten Wohlstandsgewinne zurückzuführen. Damit möchte ich nicht sagen, dass er alle wirtschaftlichen Probleme gelöst hätte. Oder etwa, dass er wirklich allen Beteiligten immer einen fairen Vorteil bringt. Kurz: Ich möchte vom Außenhandel nicht verklärt als dem Löser aller wirtschaftlichen oder gar gesellschaftlichen Probleme schwärmen. Sondern ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen, welchen gewichtigen Anteil er an der positiven wirtschaftlichen Entwicklung der ganzen Welt in den zurückliegenden Jahrzehnten gehabt hat.
Neben dieser rein wirtschaftlichen Perspektive auf den Außenhandel ist mit ihm – ich würde sagen, vor allem in den letzten 20 oder 30 Jahren – von Seiten der westlichen Industrienationen häufig auch die Hoffnung verbunden gewesen, auf die oft weniger freien und demokratischen Handelspartner auch einen politischen und gesellschaftlichen Effekt auszulösen. Dieses Credo, das in Deutschland oft mit „Wandel durch Handel“ paraphrasiert wurde und wird, galt dabei jahrelang im Umkehrschluss als die moralische Rechtfertigung, auch mit solchen Volkswirtschaften Handel zu treiben, deren politischen Systeme von Unfreiheit und Unterdrückung gekennzeichnet sind. Die grobe Argumentationslinie: Ja, wir machen zwar Geschäfte mit einem Unrechtsregime oder den dortigen Unternehmen, aber im Gegenzug für diese Geschäfte versuchen wir auch, Schritt für Schritt ein Mehr an Menschen- und Freiheitsrechten einzufordern.
Das führt dann regelmäßig dazu, dass die Öffentlichkeit bei politischen Reisen, die von Wirtschaftsdelegationen begleitet werden, eifrig anmahnt, es müssten bei dieser Gelegenheit nicht nur geschäftliche Interessen, sondern auch eine Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensumstände der dortigen Bevölkerung angesprochen werden. Vor allem in Bezug auf China hat sich diese Erwartungshaltung etabliert. Zu beobachten war das erst neulich bei der jüngsten Reise des deutschen Bundeskanzlers in das Reich der Mitte. Mit Spannung war erwartet worden, ob und, wenn ja, wie deutlich Olaf Scholz die Menschenrechtsituation in China ansprechen würde. Eine seit Jahren etablierte Choreografie.
Wobei: Eins war dieses Mal anders. Denn in der Zwischenzeit hat sich in der deutschen Öffentlichkeit die vermeintliche Erkenntnis durchgesetzt, dass „Wandel durch Handel“ eine leere Worthülse, der Anspruch an der Wirklichkeit gescheitert ist – gerade in Bezug auf China. Und ja, beim Blick auf die Situation der Uiguren, bei der wirklich diktatorischen Coronapolitik oder der allgegenwärtigen digitalen Überwachung der Bevölkerung komme auch ich ins Grübeln. Nicht freier ist die chinesische Gesellschaft geworden in den Jahren gemeinsamen Außenhandels, so scheint es, sondern noch unfreier. Dabei hätten sich westliche Werte wie Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung doch durch die politische Einflussnahme aus dem Westen schon längst auch in China ausbreiten sollen. Haben sie aber nicht. Handel kann eben doch nicht für Wandel sorgen, so scheint es.
Ich denke: Wenn wir wirklich daran geglaubt haben, die Übernahme unserer Werte und Normen zur Bedingung für den Außenhandel machen zu können, sie den Handelspartnern quasi aufzuzwingen, dann musste diese Politik tatsächlich von vornherein scheitern. Wie sollen wir von außen einem Unrechtsregime schmackhaft machen können, die Bevölkerung freier und selbstbestimmter leben zu lassen? Wie sollte diese Bevölkerung die so plötzlich gewonnene Freiheit denn mit Leben füllen? Wo sollten die gesellschaftlichen Strukturen für die Umsetzung herkommen? Und all das als Bedingung für einen Außenhandel, von dem auch wir maßgeblich profitieren – wie glaubhaft hätte da die Drohung für ein Platzen des Handels überhaupt sein können?
Das aus meiner Sicht tatsächliche Wirkprinzip von „Wandel durch Handel“ ist mit dieser Herangehensweise allerdings gründlich falsch verstanden. Wir brauchen ja eigentlich nur in die Geschichte von Freiheit und Selbstbestimmung in unseren westlichen Gesellschaften selbst zu schauen, um zu verstehen, wie die Zusammenhänge wirklich sind. Immer größere Teile der Bevölkerung erkämpften sich hier langwierig immer größere Freiheiten – und zwar meist dann, wenn sich auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten ergeben hatten, diese Freiheiten einzufordern und durchzusetzen. Für mich zieht sich dieser Zusammenhang wie ein roter Faden durch die wirtschaftliche und politische Geschichte unserer Gesellschaften. Ich denke, es ist kein Zufall, dass der letzte entscheidende Schritt zur Demokratie in den meisten westlichen Gesellschaften dann getan wurde, als die Industrialisierung dem Bürgertum so weitreichende wirtschaftliche Macht verschafft hatte, dass dieses sich auch die politische Macht wirksam erstreiten konnte – anschließend auch die Arbeiter.
Und vor allem: Die gesellschaftliche Freiheit wurde nicht von außen verordnet oder an den Zugang zu wirtschaftlichem Wohlstand geknüpft. Vielmehr hat der wirtschaftliche Wohlstand selbst den Grundstein für Freiheit und Selbstbestimmung gelegt. Die marktwirtschaftliche Ordnung hat in Europa Schritt für Schritt die wirtschaftliche Macht aus den wenigen Händen von Adel und Lehnsherren in immer mehr Hände des Bürgertums gebracht. Und dieses wollte die wirtschaftlichen Freiheiten dann nachvollziehbarerweise auch im gesellschaftlichen und politischen Leben widergespiegelt sehen.
Denn Freiheit und Selbstbestimmung sind für mich der menschlichen Natur inhärent. Der internationale Handel muss daher aus meiner Sicht keinen „Werte-Export“ leisten. Sondern er sorgt ganz wesentlich mit dafür, dass auch in weniger freien Ländern so breite Bevölkerungsschichten einen so großen Anteil an der wirtschaftlichen Macht erlangen, dass sie selbst beginnen können, ihre politische und gesellschaftliche Macht einzufordern. Ich denke, dergestalt sollten wir die Idee vom „Wandel durch Handel“ in Bezug auf Staaten wie China oder Saudi-Arabien sehen.
Es wäre aus meiner Sicht also grundfalsch, in diesem Jahr der einschneidenden Veränderungen nun den Anspruch aufzugeben, mit wirtschaftlichen Beziehungen auch zu politischen Änderungen beizutragen. Denn je weniger Wohlstand in China und anderswo in den nächsten Jahren geschaffen wird, desto fester und unverrückbarer wird die politische Machtbasis der Unfreiheit und Unterdrückung. Besinnen wir uns vielmehr auf die Wurzeln und die Vordenker unserer eigenen Wirtschaftsordnung, der sozialen Marktwirtschaft. Für einen dieser Vordenker, Walter Eucken, war der Marktmechanismus vor allem eines: ein Entmachtungsinstrument. So können und so sollten wir in Zukunft auch unseren Außenhandel in der Welt wirken lassen. Dann kann es mit dem „Wandel durch Handel“ schließlich doch noch funktionieren.
Autor: Karl Matthäus Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Quirin Privatbank und Gründer von quirion
Nach der jahrelangen mächtigen Globalisierungswelle wird nun immer häufiger von einer Deglobalisierung gesprochen, um die laufende Produktion wieder besser in den Griff zu bekommen – und das könnte durchaus einige Konsequenzen für die Wirtschaft und damit unser Leben, für die Preise – und am Ende selbstverständlich auch für die Geldanlage haben. Welche Konsequenzen das sind, erläutert Ihnen Karl Matthäus Schmidt in dieser Podcast-Folge: